1995

Glücksbringer

1995 heiratete mein Bruder. Nach der Trauung fuhr das frisch vermählte Paar mit ihren Gästen ins Jägerheim am Dickenberg.

Auf den Tischen lagen Kornblumen und Kornehren auf einem blauen Band, das alle Tische verband. Inmitten dieser Pracht saßen kleine Zwerge.

Als die Hochzeitsgemeinschaft mit dem Essen beschäftigt war, schwebte unbemerkt eine gute Fee über die Tischreihen. Sie schaute sich das Brautpaar an, lächelte und gab ihnen ihren Segen. Danach verschwand sie und die kleinen Zwerge erwachten im Schein der vielen Kerzen. Ganz benommen rieben sie sich die kleinen Geister ihre Augen und schauten sich vorsichtig um. So mitten auf dem Tisch fühlten sie sich aber ganz unwohl. Sie warteten darauf, dass die Menschen zur Bühne schauten, damit sie ganz schnell vom Tisch verschwinden konnten. An der Tischkante angekommen, rutschten sie die Tischdecke herunter und krabbelten in die Taschen der Anwesenden.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sich die Gäste vom frisch getrauten Paar verabschiedeten. Als die Hochzeitsgäste in ihren Wohnungen angekommen und ins Bett gegangen waren, verließen die kleinen Zwerge ihr Transportmittel. Sie schauten sich in ihrem neuen Heim um und suchten sich ein schönes Versteck.

Nun leben die kleinen Geister in den Wohnungen der Hochzeitsgäste und solange keiner der kleinen Geister von einem Staubsauger erwischt wird, sorgen sie jetzt und in alle Zeiten dafür, dass immer wenn die Menschen meinen, es geht nicht mehr weiter, von irgendwo ein Lichtlein kommt.

G. K. 1995

Verkehrshindernisse

Hin und wieder stoßen wir auf den Straßen rund um Berlin auf Kuhherden, die auf dem Weg zur Weide oder in den Stall sind. Sie werden beschützt durch Menschen, die mit rot-weiß gestreiften Fahnen den vorbeikommenden Verkehr irgendwie regeln.

Genauso gesichert ist die Herde "Dreharbeiten". Hierbei laufen keine Kühe zwischen den Fähnchen schwenkenden Menschen herum sondern Kameras, Autos oder Fahrradfahrer, die dummerweise nicht so schnell sind wie Autos und während des Überholvorgangs bei plötzlichem Gegenverkehr unerwartet in die Filmszenen geraten.

G. K. 1995

Zeitschleifen

In meiner Kindheit war ich immer wieder im Museum und habe dort die Vergangenheit meiner Mutter und die meiner Großeltern gesehen. Die meines Vaters war 40 Jahre unter Verschluss. Nun ist auch meine Kindheit im Museum angekommen und damit viele Teile meiner Vergangenheit.

Küchenmaschinen, Kühlschränke und Plastikgeschirr stehen in Regalen, befreit vom Staub des Vergessens. Sie harren der Dinge die da kommen werden, wie die Brombeermarmelade im Keller meiner Schwiegermutter.

Beim Anblick einiger Museumsstücke fühle ich mich um Jahre zurückversetzt. Erinnerungen, Stimmungen, Stimmen und Bilder längst vergessener Zeiten werden plötzlich wieder wach und ich stehe da alleine mit meinen Erinnerungen.

Für Momente tauche ich ein in eine schon längst nicht mehr existierende Wirklichkeit. Die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe meiner „Geschichten aus der Mottenkiste“ haben sich schon längst verflüchtigt, sind vielleicht in die Analen der Geschichte eingegangen. Meine damalige Sichtweise der Geschehnisse ist irgendwie einer anderen Realität gewichen und je mehr von mir im Museum landet, desto älter bin ich.

So wie die Generationen beim Raumschiff Enterprise wechseln, wandert die Geschichte ins Museum und die dazugehörigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verschwinden in den Geschichtsbüchern.

Alles gewesene wird interaktiv und spielerisch von einer Heerschar von EDV-Begeisterten zu einem Generationsbrei verarbeitet, als Auftragsarbeit von irgendeinem Museum, für die nachfolgenden Generationen. Und immer wenn eine Generation zu Brei verarbeitet wurde, geht die Suche nach noch lebenden Zeitzeugen los.

Meine Mutter fotografierte gerne. Besaß aber kein Fotoalbum. Neue Bilder versah sie mit einem Kommentar auf der Rückseite und legte diese zu den anderen Bildern in die Schublade ihres Nachtisches.

Wenn wir Kinder alleine waren öffneten wir die Nachttischschublade unserer Mutter. Die bunt durcheinander gewürfelten Bilder hatten es uns angetan und wir gingen auf Entdeckungsreise. Die Texte auf der Rückseite waren unsere Reisebegleiter. Dabei ordneten wir die Bilder immer wieder neu. Aus der Schublade unserer Mutter wurde so ein hypermedialer Speicher ohne elektronische Datenverarbeitung.

G. K. 1995

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